Mo., 26.12.2022 , 14:38 Uhr

Nach Missbrauchsgutachten 116 neue Hinweise in Bayern

Vor knapp einem Jahr erschütterte das Münchner Missbrauchsgutachten die katholische Kirche. Von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern ging die Studie aus - und von einem weit größeren Dunkelfeld. In dieses fällt seither etwas mehr Licht.

Seit Veröffentlichung des Aufsehen erregenden Missbrauchsgutachtens für die Erzdiözese München und Freising sind bei den katholischen Bistümern in Bayern mehr als 100 neue Hinweise auf Verdachtsfälle eingegangen.

Mindestens 116 Meldungen zählten die Diözesen im Freistaat in diesem Jahr, wie eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur ergab. Allein im Erzbistum München und Freising gingen seit der Veröffentlichung bis Ende November 54 neue Meldungen ein. Darunter sind nach Angaben eines Sprechers aber auch «Grenzverletzungen, die nicht in den Bereich sexuellen Missbrauchs fallen, und bereits bekannte Missbrauchsfälle».

«Die Berichterstattung über die Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens im Erzbistum München hat dort sicher viele ermutigt, sich zu melden», sagte der Sprecher der Opferinitiative «Eckiger Tisch», Matthias Katsch.

Im Bistum Regensburg gingen nach Angaben eines Sprechers seit dem 20. Januar insgesamt 12 Meldungen zu Fällen von mutmaßlich sexuellem Missbrauch ein. «Diese sind derzeit nicht bestätigt, sondern werden noch untersucht», teilte der Sprecher mit. Dabei handle es sich um mögliche Vorfälle aus den Jahren 1946 bis 1986. Beim Bistum Eichstätt meldete sich nach dem Münchner Gutachten ein mutmaßliches Opfer, das Bistum Würzburg teilte auf Anfrage keine Zahlen mit.

Nach Angaben des Erzbistums Bamberg wurden dort in diesem Jahr 17 Fälle «bezüglich sexuellem Missbrauch und Grenzverletzungen gemeldet». Seit 1945 seien damit 87 Beschuldigte und 166 Betroffene aktenkundig. Im Bistum Augsburg wurden in diesem Jahr 23 Erstanträge auf Anerkennungsleistungen bekannt, 13 davon wurden bislang durch die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen bei der Deutschen Bischofskonferenz in Bonn bewilligt.

Beim Bistum Passau meldeten sich in diesem Jahr neun Betroffene, sechs davon gaben an, von einem Priester missbraucht worden zu sein, der bereits als mutmaßlicher Täter bekannt ist.

Das vom Bistum bei einer Münchner Anwaltskanzlei in Auftrag gegebene Gutachten hatte bei seiner Vorstellung im Januar weltweit Aufsehen erregt. Die Studie geht von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern aus – und von einem weit größeren Dunkelfeld.

Den ehemaligen Erzbischöfen Friedrich Wetter und Joseph Ratzinger, heute Benedikt XVI., wurde in dem Gutachten persönlich Fehlverhalten in mehreren Fällen vorgeworfen – ebenso dem aktuellen Erzbischof Kardinal Reinhard Marx.

Bereits im Herbst 2018 hatte die katholische Kirche die sogenannte MHG-Studie und damit Zahlen zu sexuellem Missbrauch öffentlich gemacht. Demnach sind bundesweit in den Personalakten von 1946 bis 2014 insgesamt 1670 Kleriker wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger beschuldigt worden. Es gab 3677 Opfer. Im Jahr 2020 machten die Ordensgemeinschaften öffentlich, dass sich bei ihnen weitere 1412 Betroffene gemeldet haben.

«Es ist nicht überraschend, dass sich mehr Menschen in diesem Jahr gemeldet haben, die Opfer von sexuellem Kindesmissbrauchs durch Priester geworden sind», sagt «Eckiger Tisch»-Sprecher Katsch. «Wahrscheinlich sehen wir aber weiterhin nur die Spitze des Eisbergs.»

Er geht davon aus, dass sich in der nächsten Zeit noch mehr Betroffene melden werden – nicht zuletzt auch, weil sich inzwischen weltliche Gerichte mit der Frage befassen, welche Rolle kirchliche Verantwortungsträger im Missbrauchsskandal spielten und ob sie durch ihren Umgang mit Tätern eine Mitschuld an Fällen tragen.

In Köln verlangt ein Ex-Messdiener wegen sexuellen Missbrauchs Schmerzensgeld vom Erzbistum und das Landgericht Traunstein befasst sich mit einer Klage gegen niemand geringeren als den emeritierten Papst Benedikt XVI.

Ein Mann, der angibt, von einem damals schon einschlägig vorbestraften Priester in Garching an der Alz missbraucht worden zu sein, hat nicht nur gegen diesen Priester Klage eingereicht. Auch das zuständige Erzbistum München und Freising – und eben Benedikt XVI., der als Kardinal Joseph Ratzinger Erzbischof war, als der Täter aus Nordrhein-Westfalen nach Bayern versetzt wurde, wurden vom ihm im Rahmen einer sogenannten Feststellungsklage verklagt.

«Die jüngsten Klagen gegen Bistümer und frühere Bischöfe wie den ehemaligen Papst Benedikt führen nach unserer Wahrnehmung dazu, dass Betroffene, die bislang gezögert haben, sich zu melden, weil die psychische Belastung in keinem vernünftigen Verhältnis zu der erwartbaren Wiedergutmachung stand, überlegen, ob jetzt nicht der Zeitpunkt gekommen ist, sich bei dem Bistum zu melden, in dem sie Opfer wurden», sagte Katsch.

 

dpa

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